„Der Flüchtlingseinsatz war und ist für das Rote Kreuz die größte Herausforderung seit vielen Jahren, bei dem wir ehrenamtlich an unsere Belastungsgrenzen kamen, aber auch erfahren haben, dass wir alles schaffen, wenn wir nur zusammenhalten!“, sagte BRK-Kreisbereitschaftsleiter Florian Halter bei der Jahreshauptversammlung seiner Bereitschaft Bad Reichenhall im Juli 2016, rund zehn Monate nachdem über Nacht die medizinische Versorgung in der ehemaligen Freilassinger Möbelhalle begonnen hatte und täglich zwischen 1.200 und 1.500 Menschen die Kleinstadt passierten. Schon damals schwankte die Stimmung zwischen viel Mitgefühl, Überforderung und deutlicher Kritik an politischen Entscheidungen; auch das Rote Kreuz hatte als Hilfsorganisation für seinen Einsatz nicht nur Zustimmung bekommen; vereinzelt riefen schon 2015 langjährige Fördermitglieder an, sprachen sich vehement gegen eine vermeintliche Willkommenskultur aus und kündigten ihre finanzielle Unterstützung auf. „Sie hatten dabei aber verkannt, dass wir selbst politisch überhaupt nichts entschieden und lediglich auf die bereits eingetretene akute Situation vor Ort reagiert haben, und der gesamte Einsatz ausschließlich am Maß des menschlichen Leids ausgerichtet war. Das Rote Kreuz ist und bleibt neutral und hilft in der Not allen Menschen gleichermaßen – unabhängig von Herkunft, Religion, Weltanschauung oder politischer Gesinnung!“, stellt Halter klar.
Der Flüchtlingseinsatz hatte zunächst schleichend und klein begonnen: Seit Ende 2014 und dann immer häufiger 2015 wurden die Schnell-Einsatz-Gruppen (SEG´n) der BRK-Bereitschaften im Berchtesgadener Land von den örtlichen Polizeidienststellen angefordert, um dezentral im Landkreis gestrandete Flüchtlinge zu versorgen und zu verpflegen, jedoch nie mehr als 250 Menschen pro Tag. Im Mai 2015 musste der Landkreis dann den Notfallplan aktivieren und die Feuerwehr, das Rote Kreuz und der Malteser Hilfsdienst (MHD) bauten zwei Turnhallen in Freilassing und Laufen als provisorische Unterkünfte aus und kümmerten sich mit der Feldküche um die Verpflegung von rund 150 Menschen.
„So richtig los gings dann am 14. September, einem regnerischen Tag mit einem Rettungsdienst-Einsatz am Freilassinger Bahnhof, wo zahlreiche Flüchtlinge in einem sehr schlechten Gesundheitszustand mit dem Zug ankamen“, erinnert sich Halter. Ärzte haben dann alle Flüchtlinge vom Bahnhof mit Unterstützung durch Sanitäter des Roten Kreuzes in der nahen Polizeidienststelle an der Zollhäuslstraße gesichtet und untersucht, wobei bis zum Abend acht Menschen mit sehr schlechtem Allgemeinzustand teilweise notärztlich versorgt und in Kliniken transportiert werden mussten, darunter auch drei Kinder. Die ehemalige Ainringer Bereitschaftsleiterin Alexandra Heßberger rückte mit dem Krankenwagen aus und weiß noch, wie sie hin- und hergeschickt wurde, zunächst am Rauchegger-Parkplatz und dann am Sportpark einen Behandlungsplatz mit Zelten aufbauen sollte – beide Ideen wurden aber schließlich wieder verworfen, da klar war, dass der Einsatz definitiv länger dauern wird und man besser gleich ein passendes Gebäude einrichtet. Die Organisationen und freiwilligen Helfer arbeiteten sofort Hand in Hand zusammen und fanden sehr rasch unkomplizierte Lösungen, wie die ehemalige Möbelhalle an der Sägewerkstraße, wo Schlafplätze für bis zu 2.500 Menschen geschaffen wurden, und in einer provisorischen Sanitätsstation täglich rund 250 Menschen behandelt wurden.
Drei Tage später hatten die Einsatzkräfte die Lage trotz des erhöhten Koordinierungsbedarfs gut im Griff: Die Stimmung in den Unterkünften war trotz Stress und vieler Menschen friedlich und ruhig. Die Sanitätseinsatzleitung mit dem Leitenden Notarzt Dr. Christian Stöberl und dem Organisatorischen Leiter Jakob Goess musste in der Nacht mehrmals kurzfristig improvisieren und zusätzliche Helfer mobilisieren, da sich die Situation immer wieder änderte. Als gegen 0.45 Uhr in der Industriehalle keine Betten mehr frei waren, bauten die Einsatzkräfte kurzerhand in der Turnhalle der Knabenrealschule eine weitere Sammelstelle ohne Schlafplätze auf. Der Zustrom dorthin war koordiniert überschaubar, da die Flüchtlinge in Gruppen von der Bundespolizei transportiert wurden. Der Großteil der Flüchtlinge zog über die Grenzbrücke und die B304 von Salzburg nach Freilassing, kleinere Gruppen hatten sich auch andere Wege gesucht. Die BRK-Bereitschaften und das Österreichische Rote Kreuz (ÖRK) mussten immer wieder an die Grenze ausrücken, wo internistisch erkrankte Flüchtlinge medizinische Hilfe brauchten. Zwischen 18 Uhr und Mitternacht wurden von den bayerischen Einsatzkräften fünf kranke Flüchtlinge mit schlechtem Allgemeinzustand versorgt und in Kliniken transportiert sowie etliche weitere erschöpfte Menschen ambulant versorgt.
Auch zehn Tage später (24. September) waren die ehrenamtlichen Einsatzkräfte des Roten Kreuzes, der Malteser, des Technischen Hilfswerks (THW) und der Caritas mit großer Unterstützung durch die Freiwillige Feuerwehr und ehrenamtliche Helferkreise noch im Dauereinsatz, um die medizinische Versorgung, Verpflegung und Betreuung tausender Flüchtlinge sicherzustellen, die von Salzburg aus zu Fuß oder per Bahn in Freilassing strandeten und dort mehrere Stunden bleiben mussten, bis sie per Bus und Bahn in andere deutsche Städte weiter verteilt wurden. Die Helfer waren vor allem Rentner und Studenten, aber auch andere Ehrenamtliche, die sich extra Urlaub nahmen. Martin Planegger, der Technische Leiter der BRK-Wasserwacht Ortsgruppe Berchtesgaden, erinnert sich: „Es war sauber anstrengend für mich; rund um die Uhr läutete das Handy, ich musste den Dienstplan füllen, Ausfälle mit neuen Helfern kompensieren und nebenbei unseren regulären Wasserwacht-Dienst mit dem Rettungsboot am Königssee aufrechterhalten. Die Eindrücke vor Ort haben mich sehr berührt: Familien, die offensichtlich gewaltige Distanzen zu Fuß zurückgelegt hatten und mit löchrigen Schuhen und kaputten Füßen ankamen, eigentlich am Limit waren, aber trotzdem noch gelacht haben, weil sie glaubten, es geschafft zu haben!“
Halter, der zu dieser Zeit auf Hochtouren versuchte, mit seinem Führungsstab überregionale Unterstützung durch Einsatzkräfte aus anderen Landkreisen zu organisieren, schätzte die Perspektiven nüchtern ein: „In Bayern gibt es derzeit ja mehrere Asyl-Brennpunkte und das Oktoberfest, so dass sich unsere heimischen Freiwilligen nicht vollkommen aus dem Großeinsatz ausklinken werden können. Wir planen aber eine Pause für die Einsatzkräfte aus dem Berchtesgadener Land und Traunstein, die während der letzten zehn Tage alles gegeben haben! Wir haben rund um die Uhr für alle anfallenden Aufgaben einen Schichtdienst eingerichtet und können noch bis kommenden Sonntag Personal garantieren; danach ist unsere Belastungsgrenze in der Region definitiv erreicht.“ Die Einsatzkräfte von Rotem Kreuz und Maltesern lösten sich dreimal am Tag nach Acht-Stunden Schichten ab; sie stellten die Verpflegung und Unterkunft sicher, kümmerten sich zusammen mit Ärzten um die medizinische Eingangsuntersuchung in der Halle an der Sägewerkstraße und stellten den Sanitätsdienst für den gesamten Einsatz im Raum Freilassing sicher. Alle Aufgaben, Anfragen und Arbeiten koordinierte ein in der BRK-Kreisgeschäftsstelle eingerichteter und rund um die Uhr besetzter Führungsstab, der ein gemeinsames Einsatz- und Lagezentrum betrieb. Darüber hinaus richtete das Rote Kreuz ein Logistikzentrum ein, mit dem der ständige Nachschub an Hygieneartikeln, Medikamenten und medizinischen Produkten gewährleistet war. Der tagelange Einsatz belastete die freiwilligen Helfer körperlich und psychisch, da sie nach den teilweise sehr stressigen Schichten in Freilassing wieder zur Arbeit mussten und die Ruhezeiten nicht mehr gewährleistet waren. Nahezu jeden Tag mussten kurzfristig die ehrenamtlichen SEG´n ausrücken und den regulären Rettungsdienst und Krankentransport unterstützen, da innerhalb sehr kurzer Zeit viele kranke Flüchtlinge ankamen, die zum Teil auch mit Kreislaufproblemen zusammenbrachen. „Wenn so oft mitten in der Nacht oder während der Arbeitszeit der Piepser losgeht, sind unsere Freiwilligen irgendwann am Limit!“, betonte Halter.
Am frühen Mittwochmorgen (21. September) hielt gegen 3 Uhr in der Früh ein nicht angekündigter Sonderzug mit mehreren hundert Flüchtlingen aus Salzburg in Freilassing an, der eigentlich nach Halle durchfahren sollte. Der Sanitätsdienst des Roten Kreuzes, der die Flüchtlinge auf der Fahrt begleiten sollte, hatte einige schwer erkrankte Menschen mit sehr schlechtem Allgemeinzustand entdeckt und daraufhin Unterstützung angefordert. Die Leitstelle Traunstein schickte daraufhin den regulären Rettungsdienst mit drei Rettungswagen, einem Notarzt und die ehrenamtlichen SEG´n des Roten Kreuzes mit mehreren zusätzlichen Fahrzeugen. Die Einsatzkräfte versorgten die Patienten und brachten sie in umliegende Kliniken. Am Mittwochvormittag stellte sich die Lage weitgehend unverändert dar: Über 800 Asylanten warteten an der Brücke über die Saalach auf die Einreise; die Halle in der Sägewerkstraße war mit etwa 600 Menschen belegt. Halter: „Es ist seit Tagen ein ständiges Kommen und Gehen, wobei die Halle teilweise mit bis zu 1.200 Menschen voll wird und die Bundespolizei auch immer wieder auf eine der drei kleineren Unterkünfte zurückgreifen muss“. Während der vergangenen zehn Tage musste das Rote Kreuz im Raum Freilassing insgesamt über 100 erkrankte und verletzte Flüchtlinge versorgen und in Kliniken bringen. Mehrmals bestand der Verdacht auf Tuberkulose, bestätigte sich dann aber nicht bei den weiteren Untersuchungen in der Klinik.
Um zu verhindern, dass die Versorgungssicherheit der heimischen Bevölkerung aufgrund der unveränderten Asyl-Situation nicht leidet, nahm das Rote Kreuz einen zusätzlichen rund um die Uhr besetzten Rettungswagen in Betrieb. „Unsere Ehrenamtlichen haben am Montag vor zehn Tagen sehr rasch auf die plötzlich eingetretene Lage reagiert und innerhalb weniger Stunden geordnete Strukturen für einen koordinierten Einsatzablauf geschaffen. Angesichts der schwierigen Voraussetzungen und der fehlenden Planungssicherheit lief der Einsatz in Freilassing überraschend gut und professionell ab!“ lobte damals BRK-Kreisgeschäftsführer Tobias Kurz. Ein Problem war das zunehmend herbstliche Wetter mit Regen und nächtlichen Temperaturen, die auf bis fünf Grad sinken. Das Rote Kreuz stellte aber bewusst direkt an der Brücke keine Fahrzeuge oder Zelte auf. „Bei akuten Notfällen sind wir innerhalb von wenigen Minuten von der Rettungswache aus an der Brücke und können helfen. Wären Einsatzkräfte dort rund um die Uhr vor Ort, würden sehr viele Menschen mit nicht akuten Verletzungen und Erkrankungen bei ihnen aufschlagen und rasch die Kapazitäten sprengen, die wir für lebensbedrohliche Notfälle zurückhalten“, erklärte Halter. Am Tag der Deutschen Einheit besuchte BRK-Landesgeschäftsführer Leonhard Stärk Einsatzleiter Hermann Scherer und sein Team in der Freilassinger Notunterkunft, die mit rund 500 Menschen belegt war. Im Wartebereich hatten die Kinder ihre Erlebnisse und Erwartungen in gezeichneten Bildern ausgedrückt. „Es ist sehr bewegend ,wie die Flüchtlingskinder ihre Erlebnisse verarbeiten: jedes Bild eine Anklage gegen Krieg, Gewalt und Vertreibung!“ sagte Stärk.
Nach einigen Wochen wurde es dann wieder ruhiger: pro Tag kamen nur noch zwischen 50 und 80 Menschen an, die von der Polizei aus der gesamten Region gebracht wurden; das Provisorium hatte sich mittlerweile in ein professionelles und gut ausgestattetes medizinisches Zentrum verwandelt und alle Abläufe waren eingespielt. Kreisbereitschaftsarzt Dr. Rüttger Clasen, Organisator Florian Halter und sein Stellvertreter Christian Bethke hatten damals die Federführung über zahlreiche ehrenamtliche Ärzte und ein Team von rund 60 Rotkreuzlern der BRK-Bereitschaften, der BRK-Wasserwacht und der Bergwacht im BRK, die sich den Schichtdienst in der Halle teilten. Bis Mitte 2016 wurden so im medizinischen Zentrum fast 19.000 Stunden allein von den Rotkreuzlern aus dem Berchtesgadener Land geleistet; hinzu kamen weitere hauptamtliche Stunden, wie für die Besetzung eines in dieser Zeit zusätzlichen Rettungswagens in Freilassing und viele ehrenamtliche Stunden bei der Begleitung von Flüchtlingszügen durch ganz Deutschland. Im April 2017 waren es bereits knapp 70.000 Stunden; nach wie vor blieb ein medizinisches Team rund um die Uhr in der Halle vor Ort, um sich um die Erstversorgung und weitere Behandlung von Flüchtlingen zu kümmern. Aufgrund der geschlossenen Balkanroute war es aber viel ruhiger geworden; nichtsdestotrotz wurden tagtäglich einige Flüchtlinge von der Bundespolizei in die Unterkunft gebracht, die eine medizinische Behandlung benötigen.
Die medizinische Versorgung, Verpflegung und Betreuung der Flüchtlinge waren keine besonderen, organisationsfremden Aufgaben, die von dem abweichen, was das Rote Kreuz sonst leistet, allerdings haben die Häufigkeit, Dauer und Intensität der Hilfeleistungen die örtlichen Einsatzkräfte vor allem in den ersten Wochen an die Belastungsgrenze dessen gebracht, was man neben Job und Familie ehrenamtlich leisten kann, da sich kein Ende des Einsatzes abzeichnete, weshalb die riesige Aufgabe rasch überregional und mit anderen BRK-Gemeinschaften zusammen gemeistert wurde. Viele der knapp 70 neuen ehrenamtlichen Helfer, darunter vor allem viele Pflegekräfte und Ärzte, die das Rote Kreuz mit der großen Flüchtlingswelle ab Herbst 2015 zur medizinischen Versorgung in der Halle in Freilassing rekrutiert hat, sind auch danach der Hilfsorganisation treu geblieben, in das bestehende System der BRK-Bereitschaften mit ihren SEG´n integriert und mit Aus- und Weiterbildungen für größere Schadensfälle oder Betreuungseinsätze vorbereitet, wovon die Organisation dann in der Corona-Pandemie, aber auch bei Hochwasser- und Schnee-Katastrophen und vielen kleineren Einsätzen profitiert hat.